Circus ist Kultur!
In der Sonderausgabe der Circus-Zeitung 2021 „Circus: Kultur für Millionen“ erschien ein Beitrag des Vorsitzenden Florian Fuchs, der hier nachzulesen ist:
CIRCUS UND EUROPÄISCHE ETHNOLOGIE
Sozial- und Kulturwissenschaften
entdecken ein neues Forschungsobjekt
Der Circus sollte eigentlich längst breit erforscht sein. Doch erst jetzt beginnt er vermehrt zum Gegenstand akademischen Interesses zu werden. Dies gilt insbesondere für den _Neuen Circus“ ohne Tiere, aber auch der „traditionelle Circus“ und der pädagogische Circus werden thematisiert. An der Universität Münster gibt es mittlerweile eine Abteilung für „Circuswissen-schaft“. Tagungen mit interdisziplinärem Ansatz beschäftigen sich mit „Manegenkünsten“ (Fuchs/Jürgens/Schuster). Im angelsächsischen Bereich firmieren diese neueren Beiträge als „Circus-Studies“ und es haben sich bereits internationale Forschungsnetz-werke gebildet. Die „Circus Arts Research Platform“ (CARP) zum Beispiel beinhaltet auch eine umfangreiche Datenbank mit wissenschaftlichen Artikeln zu zirzensischen Themen.
Das neue wissenschaftliche Interesse am Circus sieht man auch an der steigenden Zahl entsprechender Anfragen an unser Archiv: Viele Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler beschäftigen sich mit dem Circus, die Zahl der Doktorarbeiten wächst kontinuierlich. Dennoch ist die neuere Circusforschung zweifellos erst noch am Anfang. Die neueren Publikationen beschäftigen sich oftmals mit Identitätspolitik, der Rolle von Frauen im Circus, Körperlichkeit und Performanz bzw. körperbasierter Auf-führungskunst.
Der Enthusiasmus der jungen Generation von Circusforscherinnen und -forschern ist unbedingt zu begrüßen. Kritisch könnte angemerkt werden, dass hier leider oft noch Ansätze der Theater- und Kunstwissenschaft dominieren, die den Circus als eine dem Gesellschaftlichen enthobene, exotische Traumwelt konstruieren. Dabei wird über-sehen, dass der Circus durchaus reflexiv ist und keineswegs (nur) reiner Schein oder reine Körperlichkeit. Vielmehr spielt der Circus auf eine ganz bestimmte Weise mit gesellschaftlichen Normen und ist eine Kunst von ganz eigenem Recht. In diesem Zusammenhang ist die Arbeit von Paul Bouissac und Yoram Carmeli (Haifa) besonders hervorzuheben. Denn sie haben versucht, den gesellschaftlichen Ort des Circus und seine Funktion anzugeben.
Auf ihren Erkenntnissen fußt auch ein guter Teil der neueren historischen Circusfor-schung. Hier wird der Circus als ein Ort er-kennbar, in dem sich die von ihm unterhaltene Gesellschaft auf eine bestimmte Weise reflektiert und spiegelt. So schrieb Bouissac bereits 1976, der Circus sei „a kind of mirror in which culture is reflected, condensed and at the same time transcended; perhaps the circus seems to stand outside the culture only because it is at its very center.“ Auch Carmeli macht deutlich, dass der Circus von Anfang an Teil der Kultur war – aber als ein ausgeschlossener. Doch was für ein Spiegel ist der Circus genau? Für Bouissac ist er eine Kommunikationsform, mit deren Hilfe die Welt innerhalb eines kulturellen Zusammenhangs als sinnvolles und geordnetes Ganzes wahrgenommen“ werden kann. Der Circus sei ein universeller „metakultureller Code“- damit ist ein Grundbestand circen-sischer Ikonographie bzw. ein fester Satz von performativen Routinen, Bildern, Erzählungen und mit dem Circus verbundene Personen gemeint – , der es erlaube, „Proble-me, die den jeweiligen kulturellen Kontext betreffen, an die Ränder auszulagern“, um sie dann in der Fiktion symbolisch durchzu-spielen.
Es bleibt spannend zu beobachten, wohin sich die neue „Circuswissenschaft“ entwickeln wird.
Florian Fuchs